Unsere Chorfahrt nach Russland 12. – 15. Mai 2016
Ein Erlebnisbericht von Claudi.
Im Mai 2016 durften wir ein zweites Mal nach Russland reisen. Für vier Tage waren wir zu Gast in Nizhny Novgorod beim „Young Voices“ Chorfestival – Молодые голоса. Die folgenden Erzählungen stammen aus meinem Reisetagebuch, das ich während der Reise recht akribisch geführt habe.
Mittwoch | 11.05.2016
Vormittags noch das Englischseminar in der Uni abgefrühstückt, in Eilgeschwindigkeit nach Hause, Gepäck-Check: Reiseklamotten, Konzert-Outfits, Noten?!, Oropax!, Reisepass!!! … alles da. Jogginghose an und vamos. Noch ein belegtes Brötchen auf die Hand und rein in den RB14 zum Flughafen Schönefeld.
Wie immer kommt am Flughafen erstmal der Orientierungsmoment, in dem man (ich) sich wünscht, wie ein alter Hase das Flughafengebäude wie seine Westentasche zu kennen und auf dem Weg zum bekannten Gate die Flughafenmitarbeiter:innen, Zollbeamten:innen, Dutyfree-Verkäufer:innen und Taxifahrer*innen per coolem Handshake zu grüßen. Man wird ja wohl noch träumen dürfen.
Aber da sind die bekannten Gesichter, die ich gesucht habe! Bei dieser Chorreise gibt es gefühlt neun verschiedene Reisegruppen, daher kommt das große Get-Together wahrscheinlich erst beim 1. Auftritt in Nizhny.
Drücken, Lachen, Lachen, Drücken. Und rein in die Maschine. 18:10 Uhr – ready for takeoff.
In Moskau gelandet – es ist mittlerweile ca. 21:30 Uhr – trennt sich nun die Spreu vom Weizen. Das große JazzVocals-Aussieben: Wer hat ein heiß begehrtes zweites Flugticket ergattert und kann entspannt in die Maschine steigen, die in nullkommanichts von Moskau nach Nizhny Novgorod flattert? Und wer verbringt die Nacht hingegen im Flughafen-„Hotel“ (ja, die Anführungszeichen haben ihren Grund – dazu später mehr), um dann am nächsten Tag vom Bus abgeholt und stundenlang durch Russlands Weiten gescheppert zu werden? Klassische Zwei-Vocals-Gesellschaft!
Die Nacht wird eh sehr kurz sein, da der Bus mit Reisegruppe 3,8 seeeehr früh am Morgen bimmelt und uns einsackt. Deswegen schenken wir unseren sogenannten Betten gar nicht erst so viel Aufmerksamkeit, aber der Vollständigkeit halber hier eine kurze Beschreibung: Man stelle sich vor, es wurde auf ein unaufgeregtes Holzbrett ein Stück Moosgummi geklebt und mit einer Serviette bedeckt – fertig!
Ok, so schlimm ist‘s nicht. Außerdem bin ich in bester Gesellschaft und Anne hat Schokobrötchen dabei!
Donnerstag | 12.05.2016
Mit Schlafsand in den Augen steigen wir um 5:30 Uhr in den Bus, in dem wir von Reisegruppe Meiko, Daria, Alexa, Marcus, Ella, Carsten, Johannes und unserem persönlichen „Reisebegleiter“ Alexej begrüßt werden.
Die lustige Kaffeefahrt führt über bescheidene Straßen durch unbekanntes Land. Dank Darias Sprachkünsten können wir uns an einer Raststätte Ei mit Brot zum Frühstück bestellen und vertreiben uns die Weiterfahrt mit Songs-proben.
Nach neun Stunden Busspaß erreichen wir unser Hotel in Nizhny und werden bereits von aufgeregten Vocals und von Elena, die hier vor Ort auch für uns „zuständig“ ist, empfangen – denn eigentlich sollten wir bereits vor drei Stunden ankommen. Für große Begrüßungsorgien ist keine Zeit – Zimmer suchen, Gepäck reinwerfen, Auftritts-Gedöns schnappen und – zack – zum ersten Konzert hetzen.
Bei der Eröffnungs-Gala dürfen wir drei Songs zum Besten geben und werden sogar für die Festivalreportage interviewt, crazy. Anschließend Abendessen und trotz Übermüdung ein wahnsinnig amüsanter Karaokeabend. Nachti!
Freitag | 13.05.2016
Vom Essen sind wir auch an Tag 2 noch nicht begeistert, aber das kann uns nichts anhaben!
Heute geht es nach Arzamas: hier dürfen wir ein ganzes Konzert geben und lernen anschließend noch den Bürgermeister der Stadt kennen, der uns höchstpersönlich durch sein Örtchen führt.
Wir erfahren beim Konzert ganz viel Freude und Begeisterung von den tollen, vielen Menschen, die uns zuhören. In einer Hochschule der Stadt wird anschließend gespeist und wie üblich auch noch gesungen. Sogar der Bürgermeister scheppert mit seinem Bariton ordentlich einen weg – mega!
Der Tag endet mit einem Galeriebesuch in Nizhny und einem ruhigen Abendspaziergang zurück zum Hotel. Heute fallen wir alle um – bis morgen!
Samstag | 14.05.2016
Wir haben das Frühstücksbuffet entdeckt! Hier gibt’s alles, was das Sänger*innen-Herz begehrt und wir stärken und gewaltig für den bevorstehenden Tag. Heute gibt’s ne kleine Workshopzeit mit den anderen Chören und wir singen alle gemeinsam in einer großen Aula – das ist schön!
Auch von Nizhny selbst bekommen wir heute noch mehr zu sehen: Auf einer Stadtrundfahrt bei fabulösem Wetter lernen wir das Städtchen noch etwas besser kennen und werden anschließend am Auftrittsort abgeladen.
Heute steht unser großes Konzert an – der Saal ist voll und wir haben Bock! Es ist so schön… Alexej und Elena führen teilweise durch den Abend und singen mit uns, wir singen uns bis zur Beseeltheit und merken irgendwie alle, dass diese Reise und dieser Abend etwas sehr Besonderes ist.
Den gepflegten After-Klo nach JazzVocals-Manier lassen wir uns natürlich nicht nehmen und verbringen einen unendlich lustigen, langen, ausgelassenen, emotionalen und wunderbaren Abend mit unseren neuen Freunden vom Nizhny Novgorod University Choir.
Montag | 15.05.2016
Muddi würde sagen – wer feiern kann, kann auch arbeiten… Und so trotzen wir natürlich unserem Hangover und dürfen noch einmal beim Abschluss-Gala-Konzert singen. Als kleines Highlight performen wir „Dobbins Flowery Vale“ gemeinsam mit den Sänger:innen des NN-Uni-Chors und Doppelsolo von Sandra und Sveta.
Beim anschließenden Häppchen-Essen mit allen Teilnehmer:innen und Chören des Festivals ist die Stimmung irgendwie so emotional aufgeladen und gleichzeitig ausgelassen, dass ich vor lauter Glückseligkeit gar nicht mehr aufhöre, zu heulen.
Manchmal kann man’s gar nicht erklären, aber all die Menschen, die Vocals, die mir so viel bedeuten, die Erlebnisse der letzten Tage, die Müdigkeit, der Restalkohol und dann singen sie auch noch „Crying In The Rain“… hier kommen sie, die Sturzbäche.
Die nächsten Stunden sind in meiner Erinnerung sehr verschwommen… wir machen noch viele Fotos, hängen ein bisschen im Hotel ab und dann geht irgendwie alles ganz schnell. Auch auf dem Rückweg gibt es wieder zig verschiedene Reisegrüppchen, sodass wir uns im Prinzip hier schon trennen müssen. Nach langer Warterei am Bahnhof auf den Zug nach Moskau muss es plötzlich dann doch schnell gehen und wir steigen hektisch in den Wagon. Vor lauter Stress haben wir keine Möglichkeit mehr, uns von Alexej und Elena zu verabschieden und rollen langsam und überfordert von der Situation aus der Stadt raus.
Sobald wir uns genauer im Zug umsehen und erkennen, wo wir die nächsten Stunden verbringen und schlafen werden, werden wir alle erstmal recht still, denn der Zug ist unheimlich eng, voll und stickig. Wir brauchen einen Moment, um uns an die Situation zu gewöhnen und ich glaube, wir alle hatten zu tun, die vergangenen Tage, das Erlebte und das Gefühlschaos einzuordnen.
Die letzten Stunden des Tages verbringen wir an zwei Wagon-Enden, wo wir die Anderen durch ein kleines Fenster sehen können und dann… ist Mitternacht!
Dienstag | 16.05.2016
Mein Geburtstag! Ernsthaft, das ist einer der krassesten und unvergesslichsten Geburtstage, die ich je erlebt habe. Ich bin mir sicher, dass man sich beim Lesen nicht ansatzweise vorstellen kann, wie die Situation sich angefühlt hat. Aber einen Versuch ist es wert (und mir kommen schon wieder die Tränen).
Es ist also 0 Uhr und plötzlich habe ich Geburtstag. Um mich herum die tollsten Menschen, eine Torte, eine berührende Karte mit lieben Botschaften von allen. Dieses winzige Abteil ist eng und heiß und laut. Dazu kommt eine komische Mischung aus Müdigkeit und Erschöpfung gepaart mit Aufregung. Durch das winzige Fenster sehe ich die Anderen mit einer Kerze und hüpfe umher zwischen Wagon x und Wagon y (als ob ich mich an die Nummer erinnern kann). Ich bin so erfüllt von Liebe und Dankbarkeit, dass ich natürlich – überraschenderweise – weine.
In den folgenden Stunden im Zug versuchen wir einfach, zu überstehen, zu schlafen und Ruhe zu finden.
Den Tag verbringen wir in Moskau, laufen unendlich viele Schritte und es ist wunderbar, noch die Zeit mit allen zusammen zu haben. Einige bleiben noch eine Nacht in Moskau; für uns geht am Abend der Flieger zurück nach Berlin.
Und so schnell sind vier Tage Chorreise nur noch Erinnerung.
Ich finde es immer wieder erstaunlich und wunderschön, was solche Erlebnisse bewirken und auslösen können. Diese Menschen sind eben mehr als nur Chormitglieder oder Stimmgruppenkolleg:innen.